Brexit war Unsinn

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„Brexit war Unsinn“
Wera Hobhouse (Liberal Democrats) im Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“

Die liberale Unterhausabgeordnete Wera Hobhouse sieht Großbritannien bei der Bewältigung der Corona-Pandemie schlecht aufgestellt. „Einmal mehr zeigt sich, wie unsinnig es war, den Brexit durchzuziehen und alle Probleme auf die Einwanderer zu schieben“, sagte die gebürtige Deutsche im Interview mit der Wochenzeitung „Das Parlament“ (Erscheinungstag der Themenausgabe „Großbritannien“: 14. April 2020). Den Verlust Tausender Ärzte und Pflegekräfte im Zuge des EU-Austritts werde auch das geplante neue Einwanderungsrecht nicht aufwiegen, urteilte sie darin. Die derzeit vorgesehenen Einkommensschwellen seien für gering Qualifizierte zu hoch.

Hobhouse fürchtet nach Ende der Pandemie außerdem massive Einschnitte in das ohnehin „ausgehöhlte“ Wohlfahrtssystem des Königreichs. „Meine Sorge ist, dass es so läuft wie nach der Finanzkrise 2008. Schon da musste der ärmste Teil der Bevölkerung die größten Lasten schultern.“ Sie hofft, dass es mit dem neuen Labour-Chef Keir Starmer gelingen werde, eine Allianz zu bilden, um die Opposition im Land zu stärken.

Das Interview im Wortlaut:

Frau Hobhouse, die Corona-Pandemie trifft aktuell auch Großbritannien hart. Es gibt Tausende Tote, und nachdem auch Premier Boris Johnson schwer erkrankt ist, führt Außenminister Dominic Raab die Amtsgeschäfte. Wie gut ist die Regierung in dieser Krise aufgestellt?
Nicht gut, sie hat viel zu spät Maßnahmen ergriffen. Offenbar hat der Brexit-Zeitgeist zu dem Irrglauben geführt, dass das Virus sich in Großbritannien anders verhalten wird als in den übrigen Staaten. Johnson wollte die Wirtschaft unbedingt weiterlaufen lassen, vielleicht sogar Profit aus der Situation schlagen. Hauptsache, die produktiven Arbeitskräfte überleben! Diese Haltung könnte viele Menschenleben kosten.

Johnson war noch im Dezember strahlender Sieger bei der Unterhauswahl. Zweifeln die Menschen nun an seiner Kompetenz?
Davon ist bislang keine Spur. Diese Regierung lebt stark von Propaganda. In den öffentlichen Auftritten vor seiner Corona-Erkrankung saß Johnson neben dem Union Jack und beschwor den nationalen Zusammenhalt – genau dafür haben die Leute diesen Populisten gewählt. Spannend wird sein, wie es weitergeht, wenn die Gesundheitskrise vorbei ist. Wer trägt die Kosten? Werden die Steuern erhöht, Sozialleistungen gekürzt? Meine Sorge ist, dass es so läuft wie nach der Finanzkrise 2008. Schon da musste der ärmste Teil der Bevölkerung die größten Lasten schultern. Die Konservativen haben das Wohlfahrtssystem ausgehöhlt – und wurden trotzdem als vermeintliche Heilsbringer gewählt. Ich werde all meine politische Kraft bündeln, um zu verhindern, dass es wieder so läuft.

Ihre liberale Partei hat aber nur noch elf Sitze im 650 Köpfe zählenden Parlament. Was kann eine so schwache Opposition ausrichten?
Wir hoffen, dass es mit dem neuen Labour-Vorsitzenden Keir Starmer gelingt, eine progressive Allianz zu bilden. Dann könnten wir erwägen, keine Kandidaten gegeneinander aufzustellen. Mit den Grünen ist das ja bei der Wahl im Dezember 2019 teilweise gelungen, aber die Labour Partei hat noch nicht mitgemacht. Zur Zeit ist das aber nicht möglich. Im Moment haben wir Liberalen keinen gewählten Parteivorsitz, weil der Wahlkampf wegen der Pandemie um ein Jahr verschoben ist. Das schwächt uns als Partei sehr. Die Tories können im Grunde machen, was sie wollen.

Die Pandemie trifft in Großbritannien auf ein chronisch unterfinanziertes Gesundheitssystem. Schon bei der schweren Grippewelle vor zwei Jahren stand der National Health Service NHS vor dem Kollaps. Warum hat die Regierung daraus nicht gelernt?
Im Gegenteil, sie hat noch wilde Sparmaßnahmen durchgesetzt, obwohl die schon seit fünf Jahren nicht mehr nötig gewesen wären. Kritik daran gibt es trotzdem kaum. Der NHS sichert jedem Briten eine kostenlose Gesundheitsversorgung und ist eine Art nationales Symbol. Die Menschen sind unheimlich stolz darauf, egal aus welcher politischen Ecke sie kommen.

Der Brexit verschärft die Situation in der Corona-Krise doch aber noch. In den Kliniken fehlen jetzt Tausende Ärzte und Pfleger aus der EU, die seit dem Referendum das Land verlassen haben. Wie steuert die Regierung dagegen?
Das geplante neue Einwanderungsrecht wird die Probleme nicht lösen. Bisher ist vorgesehen, dass Einwanderer ein Jobangebot mit einem Jahresgehalt von mindestens 25.600 Pfund, also rund 30.100 Euro, vorweisen müssen. Diese Schwelle ist für gering Qualifizierte zu hoch. Auf sie sind unsere Wirtschaft und das Gesundheitssystem aber angewiesen. Einmal mehr zeigt sich, wie unsinnig es war, den Brexit durchzuziehen und alle Probleme auf die Einwanderer zu schieben. Leider mag diese Diskussion zur Zeit aber keiner führen.

Führt die Pandemie nicht zu einem Umdenken in Sachen Brexit? Ohne die EU könnte es Großbritannien schwerer haben, die Folgen zu bewältigen.
Das sind Debatten von gestern. Viele Menschen wollten den Brexit als Alternative zum Status quo, der für sie tatsächlich sehr schlimm ist. Sie leben in schlechten Wohnungen, sind arbeitslos. Die wollen das jetzt durchziehen, das hat die Wahl im Dezember klar bestätigt. Die Propaganda, wonach die EU an den Problemen Schuld ist, hat sich tief in die Köpfe eingegraben. Und dass man vor allem den bildungsfernen Schichten vorgeworfen hat, sie seien wohl zu blöd, um die Konsequenzen des Brexit zu verstehen, hat bei vielen nur zur einer Trotzreaktion geführt: Brexit – jetzt erst recht!

Wird die Regierung trotzdem eine Verlängerung der Brexit-Übergangsfrist beantragen? Bis Ende Dezember ein Freihandelsabkommen mit der EU auszuhandeln, wird denkbar knapp, zumal die Gespräche wegen der Corona-Pandemie auf unbestimmte Zeit ausgesetzt sind.
Das wird sie nicht machen. Die EU-Politiker müssen doch endlich sehen, was hier läuft: Die britische Regierung will einen No Deal-Brexit! Die Hardliner bei den Tories haben gewonnen, sie wollen keine Verhandlungen und kein Abkommen. Es wird Zeit, dass die EU das realisiert.

Die Union will einen harten Brexit aber unbedingt verhindern. Hofft die britische Regierung, dass Brüssel deshalb mehr Zugeständnisse macht und zum Beispiel EU-Standards für Umwelt und Verbraucherschutz aufweicht?
Nein, und solche Kompromisse sollte auch die EU nicht machen. Großbritannien muss als Drittland behandelt werden, sonst werden andere Mitgliedstaaten bald ähnliche Rabatte verlangen. Das schadet ihrer Integrität.

Wie beliebt ist ein No Deal-Brexit ohne Zugang zum europäischen Binnenmarkt bei der britischen Wirtschaft? Ihr droht infolge der Pandemie auch eine schwere Rezession.
Sie hat sich durch die EU ebenfalls oft eingeschränkt gefühlt. Die britischen Unternehmen setzen auf Freihandel und größtmögliche Flexibilität, es gibt weniger Steuern und weniger Regulierung als etwa in Deutschland. Das Land ist damit sehr erfolgreich. Bei der älteren Generation herrscht außerdem noch dieses Weltmachtdenken vor: Wir Briten sind besser, Britannia rule the world! Das wird mit großem Enthusiasmus gesungen. Die Angst vor einem No-Deal-Brexit ist hier tatsächlich nicht sehr groß.

Sie selbst haben von den Freiheiten in der EU sehr profitiert. In Hannover geboren, sind Sie 1990 ihres Mannes wegen nach Großbritannien gezogen und nun sogar Abgeordnete im Unterhaus. Wird es Biografien wie Ihre in Ihrer Wahlheimat bald nicht mehr geben?
Doch, ich glaube schon. Der Rückzug in die eigenen nationalen Grenzen wird langfristig keine Option sein. Der Brexit ist das letzte Hurra einer alten Weltsicht, die meint, dass man nationale Identität bewahren kann. Die jüngere Generation will reisen, woanders leben, sich vernetzen. Mittelfristig wird die Welt globaler werden.


In der Corona-Krise besinnen sich die Staaten doch gerade wieder auf das Nationale. Jeder handelt für sich allein, die EU steht am Rand.
Corona wirft uns zurück, keine Frage. Vorher hätte ich gesagt, der Brexit ist in zehn, 20 Jahren Geschichte. Jetzt könnte er ein Rückschritt für lange Zeit sein. Vielleicht führt die Krise aber auch zu mehr internationaler Zusammenarbeit. Das jedenfalls ist die Hoffnung, die mich politisch motiviert.

Das Gespräch führte Johanna Metz.
 

Wera Hobhouse wurde in Deutschland geboren und lebt seit 1990 in Großbritannien. 2007 wurde sie britische Staatsbürgerin, seit 2017 sitzt sie für die Liberaldemokraten im Unterhaus. Dort ist die bekennende Brexit-Gegnerin Mitglied im Brexit-Ausschuss.

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